Wofür brennen Sie, Frau Kreuchwig?

29. März 2022 | Zum Thema

Im Rahmen unserer Feuer & Flamme-Woche haben wir acht blinde und sehbehinderte Menschen gefragt, wofür sie brennen. Eine von ihnen ist Susanne Kreuchwig. Die 49-jährige, blinde Frau wohnt in Berlin. Hier fühlt sie sich pudelwohl. Die Stadt ist ihr zuhause. Dennoch schlägt ihr Herz noch für ein anderes Land ganz besonders.  

Wofür brennen Sie, Frau Kreuchwig?

Ich brenne für fast alles, was mit Japan zu tun hat – vor allem die Sprache und die Kultur.

Wie ist Ihre Leidenschaft entbrannt?

Als ich mein Abitur abgeschlossen hatte, wusste ich nicht in welche Richtung ich gehen sollte. Hier in Deutschland gab es drei Richtungen, die für mich interessant waren: Musik, Informatik und Sprachen. Eine deutsche Freundin, die seit ein paar Jahren in Tokio lebte, hatte mich dann zu sich eingeladen. In Japan merkte ich schnell, dass ich die Sprache lernen will. Ich dachte: Wenn meine Freundin die Sprache sprechen kann, dann kann ich das bestimmt auch. Da kam dann die Frage auf, ob man das unimäßig irgendwie verbinden kann. Ich habe mich deshalb dafür entschieden in Berlin Japanologie zu studieren, hauptsächlich um erst einmal die Sprache zu lernen und dann auch die Kultur des Landes kennenzulernen. Nachdem ich eine Woche da war, wollte ich ja unbedingt wieder dorthin. Während des Studiums habe ich dann erfahren, dass man sich nach dem Grundstudium für ein Austauschjahr in Japan bewerben kann, wenn die Sprachkenntnisse gut sind und auch einen begründeten Forschungsgrund angibt. Das konnte ich vorweisen und habe dann ein Stipendium gekriegt. Als ich dann wieder in Japan war, haben sich so viele Möglichkeiten für mich eröffnet. In Deutschland war das Hauptstudium für mich kaum zu schaffen, weil die meisten Lehrmaterialien für Japanologie zum Hausarbeiten schreiben und so weiter in Englisch waren. In Japan war das anders. Dort gibt man dir alles, was du brauchst: alles in Punktschrift oder digital. Wenn du das bekommen hast, musst du aber die gleichen Leistungen erbringen, wie die anderen Studierenden ohne Behinderungen auch. Und weil mein Japanisch eben auch schon so gut war, dass ich mich im Alltag ohne große Probleme verständigen konnte, dachte ich „Ich bleibe in Japan!“ Ich habe dann geschaut, was ich studieren kann. Entschieden habe ich mich für Informatik – und ja, dann bin ich eben für längere Zeit dageblieben.

Susanne Kreuchwig steht hinter einem Reliefglobus, der nur unscharf zu erkennen ist. Sie blickt nach unten, ertastet den Globus und lächelt.

Wie lange sind Sie in Japan geblieben?

Seit 2006 bin ich mit Unterbrechungen dann erst einmal bis 2010 dortgeblieben. Nach dem Informatikstudium habe ich nämlich noch eine klassische Musikausbildung gemacht – einfach, weil es mich interessiert hat und ich in Deutschland keine Arbeit gefunden habe.

Wieder zurück in Deutschland befand ich mich dann ein bisschen in der beruflichen Sackgasse. 2015 wusste ich überhaupt nicht, was ich machen sollte. Und dann rief mich ein ehemaliger Professor an. Ich weiß, dass ich gerade in einer Bushaltestelle stand. Er fragte mich, was ich gerade mache und ob ich Arbeit hätte. Er erzählte mir dann von einem neuen Masterstudiengang in Bezug auf Informatik. Im Sommer 2015 bin ich daraufhin sofort nach Japan geflogen und habe die ganzen Gespräche dafür geführt. Ich kannte ja noch die Lehrer und die kannten mich. Nach den Aufnahmeprüfungen so um den März herum war für mich dann alles in Sack und Tüten, so dass ich ab Mitte 2016 wieder in Japan wohnte. 2019 konnte ich das Studium abschließen. Danach habe ich noch ein wenig dort privat gearbeitet, also nicht bei einer Firma angestellt. Im Blindenzentrum habe ich auch einigen Leuten Computerzeug beigebracht. Auch mit Übersetzungsarbeiten habe ich mir etwas Geld dazuverdient. Seit 2019 bin ich wieder in Deutschland.

Sie sagen, dass Sie im Studium alle Lehrmaterialien auch in Brailleschrift erhalten haben. Unterscheidet sich die japanische Brailleschrift sehr von der, die wir in Deutschland kennen?

Japanisch ist ja nun eine ganz andere Sprache. Es ist eine Silbensprache. Von daher gibt es auch keine Buchstaben an sich. Die, ich glaube es sind 56 Schriftzeichen, die für die Silben stehen, werden dann in der normalen 6-Punkt-Brailleschrift dargestellt. Das Erlernen der japanischen Punktschrift war für mich aber nicht schwer. Das habe ich mir selbst und gar nicht über die Uni in ganz kurzer Zeit beigebracht.

Wie viel Japanisch sprechen Sie jetzt hier in Deutschland?

Ich würde auf jeden Fall gerne noch mehr Japanisch sprechen – gerne auch Japanerinnen und Japaner hier in Berlin kennenlernen, aber das ist nicht so einfach. Ich hätte wirklich nichts dagegen, wenn ich jeden Tag Japanisch sprechen könnte. Es fehlt mir schon sehr. Einiges läuft über Messengernachrichten oder Sprachnachrichten mit Freunden und Bekannten, die ich dort noch kenne.

Was an der Kultur mögen Sie sehr?

Vieles – vor allem interessiert mich das alte Japan. Auch das Mittelalter, mit den Samurai und den ganzen Fürsten. Alte japanische Filme sind ebenfalls toll. Vom gegenwärtigem Japan mag ich insbesondere diese Gegensätze, die einen überall begegnen. In den Großstädten zum Beispiel: Man kommt in so kleine Gassen, in denen dann traditionelle japanische Läden sind, wo es dann auch wirklich japanische Dinge zu kaufen gibt. Auch japanische Restaurants findet man dort. Die nächste Straße ist dann vielleicht schon wieder ganz belebt, mit McDonalds und diesen Sachen. Japan ist ein Land der Kontraste – die zu erleben, finde ich total spannend. Das Land ist sehr fortschrittlich und modern, aber Traditionen werden dabei stets geachtet. Dieses Traditionsbewusstsein merkt man beispielsweise an den ganzen Festen, die ich auch sehr mag. Die Volksfeste heißen dort ‚Matsuri‘ – zum Beispiel gibt es Frühlings- und Sommerfeste, die in der Stadt stattfinden. Da wird dann traditionelle Kleidung wie Kimonos getragen und mit typisch japanischen Instrumenten Musik gemacht. Dazu wird dann auch getanzt.

Wie wurden Sie dort aufgenommen – als Ausländerin und als blinde Frau?

Die Blindheit war eigentlich nie schlimm. Dafür wird man nicht komisch angeguckt. Es gibt in Japan eher eine große Hilfsbereitschaft. Grundsätzlich sind die Städte für blinde Menschen auch barrierefreier: Überall sind Leitlinien, alles ist gut mit Punktschrift versehen. Und die Automaten haben alle eine Sprachausgabe. Heutzutage gehören blinde Menschen dort zur Gesellschaft dazu. Vor ein paar Jahrzehnten war das allerdings auch noch anders. Eine japanische Freundin ist auf dem Land aufgewachsen. Sie hat mir erzählt, dass sie bei größeren Familienfesten wegen ihrer Blindheit versteckt wurde – das war früher wohl nicht so ungewöhnlich.

Dass ich Ausländerin war, habe ich dagegen schon gespürt. Das geht aber jedem so, der nicht aus Japan kommt. Man bleibt eigentlich immer die Ausländerin oder der Ausländer. Da Deutschland in Japan sehr geschätzt wird, waren aber alle immer sehr interessiert. Das Image von Deutschland ist jedoch echt schlimm. Viele Japanerinnen und Japaner denken, Deutsche essen immer Kartoffeln und Kohl, trinken ganz viel Bier, tragen Lederhosen und jodeln. Und wenn man in Japan ‚Deutsch‘ essen geht, dann läuft im Hintergrund nur Blasmusik. Ganz schrecklich!

Sie haben im Vorgespräch gesagt, dass es Sie nervt, wenn andere Menschen davon überrascht sind, dass Sie bereits jahrelang in Japan gelebt haben. Warum?

Eigentlich ist ‚nerven‘ das falsche Wort. Es wundert mich eher, dass es so eine Überraschung ist. Ich wurde schon so oft gefragt: „Du hast in Japan gelebt? Ganz alleine?“ Ich sage dann immer aus Spaß, dass Japan so voller Menschen ist, dass man nie alleine ist. Aber im Ernst: Ich verstehe es einfach nicht. Wenn ich zehn Jahre in der Sahara gelebt hätte – okay, aber Japan ist ein normales Land. Und ich spreche ja die Sprache. Ob Tokio oder Berlin – ich kann doch fragen, wenn ich etwas nicht weiß.

Ihr/e Ansprechpartner/in

Carsten Zehe
Tel.: 01522 5883073
info@blindenhilfswerk-berlin.de

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