Wofür brennen Sie, Herr Nicolai?

30. März 2022 | Zum Thema

Im Rahmen unserer Feuer & Flamme-Woche haben wir acht blinde und sehbehinderte Menschen gefragt, wofür sie brennen. Einer davon ist Thomas Nicolai. Die Leidenschaft des stark sehbehinderten 71-Jährigen bringt im wahrsten Sinne des Wortes Schwung in sein Leben.

Wofür brennen Sie, Herr Nicolai?

Seit vielen Jahren ist es das Tandemfahren. Die Leidenschaft dafür hat mich zwar erst vergleichsweise spät gepackt, aber dann umso intensiver. Ich kann sagen, dass es seit 20 Jahren einen Großteil meines Lebensinhaltes ausmacht. Was als schönes Hobby neben der Arbeit begonnen hat, füllt mich jetzt, seitdem ich nicht mehr berufstätig bin, richtig aus. Ich habe einfach gemerkt, dass das Tandemfahren ganz viele Chancen für schöne Momente bietet.

Warum brennen Sie dafür?

Tandemfahren hat verschiedene wunderbare Aspekte. Ich selbst kann ja nur wenig sehen und dadurch auch nicht selbst Fahrradfahren- jedenfalls nicht im öffentlichen Raum, wo ich andere Leute gefährden kann. Und das Tandem ist für mich die einzige Möglichkeit, mich gemeinsam mit einem Piloten per Fahrrad zu bewegen.

Auf der anderen Seite ist es aber auch eine Art von Gelöstheit und Freiheit, weil ich ja keine Verantwortung dafür tragen muss, den richtigen Weg zu finden oder keine Hindernisse zu streifen – das macht ja der Pilot. Ich selbst kann mich darauf konzentrieren gut mitzufahren und all das aufzunehmen, was mir auf der Fahrt begegnet. Mit dem Tandem fühle ich mich beim Unterwegssein einfach viel sicherer als wenn ich alleine oder auch mit jemand anderem am Arm durch die Stadt laufe. Denn da passiert es doch schon mal, dass ein Poller übersehen wird.

Natürlich kann auch beim Fahrradfahren etwas passieren. Während des Fahrens bin ich allerdings sehr viel entspannter. Da kann ich meinen Gedanken einfach freien Lauf lassen und viel mehr von der Umgebung wahrnehmen. Auf Touren lasse ich mir viel vom Piloten erzählen und gemeinsam erreichen wir schöne Ziele. Dabei bin ich an der frischen Luft und mache etwas für meine körperliche Tüchtigkeit.

Für mich gibt es aber auch Gründe fürs Tandemfahren, die nichts mit meiner Sehbehinderung zu tun haben. Tandemfahren ist eben etwas, was nur zu zweit gelingt. Das ist ja klar. Man fährt zusammen los und muss zusammen ankommen. Das heißt, dass man viel gegenseitige Begeisterung aufbringen muss und die gleichen Ziele braucht. Gleichzeitig ist es wichtig, dass man die Kräfte gemeinsam einteilt. Harmonie muss sich zwischen den Fahrern entwickeln, um gemeinsam unterwegs zu sein. Denn es gibt natürlich auch schwierige Situationen, bei denen man versuchen muss, zusammen ruhig zu bleiben. Pannen, schlechtes Wetter oder den Weg nicht finden, sind solche Momente.

Thomas Nicolai steht lächelnd vor einem Tandem zwischen beiden Sätteln. Er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „tandem-hilfen.de“. Unter der Aufschrift ist ein Piktogramm mit einem Tandem und zwei fahrenden Personen sowie Punktschrift zu sehen.

Wie sind Sie zu Ihrer Leidenschaft gekommen?

Als Kind bin ich auch mit dem Rad durchs Dorf gefahren. Ich kannte jeden Weg und die Leute mich, so dass sie mir aus dem Weg gingen, wenn sie mich sahen (lacht). Später im Internat in Königs Wusterhausen gab es ein altes Tandem. Das wurde aber nur verwendet, um mal eine Runde um die Schule herum zu fahren oder zum Badesee mitzufahren. Mein erstes Tandem hatte ich dann erst in den 70er Jahren, als man mit den eigenen Kindern gemeinsam irgendwie unterwegs sein wollte. Das war ein kleines Klapptandem aus Polen. Sozusagen ein Minirad, aber es ging. Meine Leidenschaft fürs Tandemfahren ist bis dahin aber nicht wirklich entbrannt. Das ging eigentlich erst mit dem Kauf eines etwas besseren Tandems und zwei Urlauben in Irland mit vollem Gepäck los. Das war dann die erste Stufe.

Die wirkliche Entflammung begann dann als wir auf die Idee kamen zu den Paralympics zu fahren, die 2004 in Athen stattfinden sollten. Wir hatten davon gehört, dass vier Jahre zuvor jemand mit dem Fahrrad nach Australien gefahren ist. Und da haben wir, meine Frau und ich, uns gedacht „Naja, Athen ist ja nun ein bisschen näher. Dann machen wir einen langen Urlaub und fahren dahin.“ Wir kannten auch noch ein zweites Tandemteam, das Lust hatte mitzufahren. Dieses Ehepaar hatten wir kurz vorher kennengelernt.

Weil wir mit solch großen Touren noch keine Erfahrungen hatten, ging es dann erst einmal mit Training los. Die geplante Strecke nach Athen umfasste circa dreieinhalbtausend Kilometer. Wir hatten uns deshalb vorgenommen, in dem Jahr vor der Tour diese Kilometerzahl schon einmal insgesamt gefahren zu haben. Es war dann ein riesiges Erlebnis als wir das erste Mal an einem Tag 100 Kilometer fuhren. Wir waren ja keine trainierten Radfahrer in dem Sinne.

Und dann ging es los – am Ende waren wir sechs Wochen unterwegs und durchfuhren neun Länder. Allerdings blieb es nicht bei einem privaten Urlaub, sondern daraus wurde ein Hilfsprojekt. In allen Ländern, die wir bereisten, wollten wir Blindenorganisationen und –schulen mit Hilfsmitteln versorgen. Dafür haben wir dann Sponsoren gefunden, sodass wir Dinge im Wert von insgesamt circa 25.000 € übergeben konnten. Das waren kleine Alltagsgeräte, Schreibmaschinen für Blinde, einige Computer und auch Tandems. Darauf waren wir am Ende natürlich richtig stolz.

Vor allem waren wir aber stolz, weil wir die dreieinhalbtausend Kilometer geschafft hatten. Am Anfang war uns das gar nicht so klar, ob wir wirklich dort ankommen würden. Für uns war es eher erstaunlich, dass es immer besser klappte desto länger wir fuhren. Man hätte ja denken können, dass Ermüdungserscheinungen kommen, aber das war ganz im Gegenteil der Fall – man fuhr sich immer mehr ein. Als wir dann zum Beispiel mal in Budapest planmäßig zweieinhalb Tage frei hatten und nicht Rad fuhren, war das schon richtig komisch.

Also kurz und gut, wir haben unser Ziel erreicht und konnten die Paralympics live miterleben, wo wir unseren Erfolg auch gut gefeiert haben. Da kam dann das Gefühl auf, dass man, wenn man so etwas geschafft hat, das irgendwie weiterführen muss. Entstanden sind dann die vielen, vielen Veranstaltungen. Zum Beispiel die internationalen Jugendtandemcamps, die wir seit 2005 organisieren – in diesem Jahr zum 18. Mal. Neben diesen internationalen Geschichten haben sich dann noch weitere Standardveranstaltungen herauskristallisiert, die in den ersten Jahren ganz privat organisiert worden sind. Seitdem ich mit anderen zusammen 2009 den Verein Tandem-Hilfen e.V. gegründet habe, läuft das über ihn. Es gab dann auch noch weitere Hilfsfahrten, zum Beispiel nach St. Petersburg, nach Paris und zwei in Kuba. Eine Tour haben wir auch quer durch Deutschland gemacht, bei der wir die Schulen für blinde und sehbehinderte Kinder mit einbezogen haben.

Neben diesem organisierten Tandemfahren in Gruppen möchte ich aber auch noch gerne nebenher Tandemfahren und nutze jede Möglichkeit dafür. Privat bin ich beispielsweise schon von Mainz nach Rom und von Flensburg nach Garmisch Patenkirchen gefahren. Ansonsten fahre ich sehr gerne hier im Berliner Umland, nicht selten mit der Regionalbahn auch ein Stück raus, damit man nicht durch die Stadt fahren muss. Oder eben im Spreewald, wo ich selber so ein kleines Grundstück habe und von dort aus ganz gute Touren machen kann. Ich fahre vorwiegend mit meiner Lebensgefährtin zusammen oder auch mit einem guten Freund hier aus Berlin, mit dem ich ganz viele Touren rund um Berlin oder im Havelland unternommen habe.

Viele sagen zu mir: „Mensch Thomas, du fährst nur Tandem!“

Haben Sie eine richtige Lieblingsstrecke?

Das ist schwierig. Es sind ja auch oft die Momente und Erlebnisse, die eine Strecke besonders machen. Zum Beispiel auf der Tour nach Rom mussten wir einige Pässe überqueren. Bei einer Abfahrt hatten wir das Glück, dass die Strecke gesperrt war, ich glaube wegen eines Autorennens. Es ging schätzungsweise 20 km mit schönen Kurven bergab. Da ist man dann etwas waghalsig mit etwa 70 bis 75 km/h heruntergefahren. Ähnlich war es auch in Kuba. Da gab es auch so eine Strecke, nur, dass die Straße ganz viele Schlaglöcher hatte. Da waren wir froh, dass wir unten waren, und trotzdem war es ein Wahnsinnserlebnis.

Hier im Umland ist es wunderbar zwischen Havel und Elbe zu fahren. Da ist es auch ganz flach. Und im Spreewald fährt es sich ebenfalls ganz wundervoll. Da sind ganz viele schöne Radwege entstanden, die auch schön hügelig sind. Eine kleine Strecke, die wir dort oft fahren, beginnt in Brand. Von da aus gibt es einen tollen Weg nach Krausnick, der sich durch den Wald schlängelt und schön hügelig ist. Dort reicht meistens der Schwung, den man bei der Abfahrt hat, um dann gerade wieder auf der Kuppe des nächsten Hügels zu kommen. Des Öfteren fahre ich aber auch mit meinem Freund die Strecke von Spandau nach Potsdam –  auch wunderschön!

Machen Sie auch noch ohne Tandem Urlaub?

Ja, ich war im vorherigen Jahr in Italien ohne Tandem. Wir sind mit der Bahn hin- und zurückgefahren und haben viel unternommen. Aber das muss man nicht jedes Jahr machen (lacht). Wir sind öfters auf Hiddensee. Selbst da nehmen wir das Tandem mit, obwohl die Insel so klein ist.

 

Ihre Ansprechpartnerin

Blindenhilfswerk Berlin e.V.

 

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