Wohnen im Wandel der Zeit
Von dem einstigen Wohnheimgebäude in der damaligen Fichtestraße 37 bis 38 ist nicht mehr allzu viel übrig. Nur ein kleiner Teil vom Turm erinnert noch heute an das Haus in der jetzigen Lepsiusstraße 117, das 1890 nach dem einjährigen Bau von blinden Frauen bezogen worden war. Anders das Gebäude in der Rothenburgstraße 15. Alte Backsteine lassen erahnen, dass das Blindenhilfswerk Berlin e.V. auf eine langjährige Vergangenheit zurückblickt: Bereits seit über 135 Jahren hat sich der Verein zur Aufgabe gemacht, Menschen mit Sehbehinderungen den Zugang zu eigenem Wohnraum zu ermöglichen, da seinen Unterstützerinnen und Unterstützern stets bewusst war, dass hier der Grundstein für ein selbstbestimmtes Leben gelegt wird – das war 1886 so und ist heute nicht anders.
Am Ende des 19. Jahrhunderts lebte ein Großteil der blinden Frauen und Männer allein sowie in Armut in Asylunterkünften. In vielen Fällen waren sie auch obdachlos. Karl Wulff wollte diese Perspektivlosigkeit der betroffenen Menschen nicht mehr hinnehmen. Der Direktor der königlichen Blindenanstalt gründete deshalb 1886 den Verein zur Beförderung der wirtschaftlichen Selbstständigkeit der Blinden, das heutige Blindenhilfswerks Berlin e.V.
Seiner Meinung nach brauchten Personen, die blind waren, neben Ausbildung und Arbeit auch die Möglichkeit eine Unterkunft zu finden, um selbstständig leben zu können und damit auch Selbstvertrauen aufzubauen. Etliche Personen, die im schulischen Kontext mit sehbehinderten Menschen zu tun hatten, teilten diese Ansichten nicht. Sie befürchteten, dass man den Betroffenen damit zu viel Hoffnung für eine normale Zukunft mache und die Selbstständigkeit schnell ihre Grenzen findet, was sie letztendlich noch stärker psychisch belasten würde.
Für jedes Geschlecht ein eigenes Wohnheim
In der heutigen Lepsiusstraße 117 entstand das erste Wohnheim. Dieses war blinden Frauen vorbehalten, da hier ein großer Bedarf gesehen wurde. Fehlende Berufs- und Familienaussichten machten diese Gruppe besonders mittellos. Formell handelte es sich bei der Wohnform um ein Heim, in dieser Zeit nicht anders denkbar. Der Charakter des Zusammenlebens und des Wohnens war aber ein anderer: Durch die Hausordnung ergaben sich enorme Spielräume zum selbstständigen Handeln. Zwar waren Herrenbesuche nicht gestattet, die Bewohnerinnen konnten aber beispielsweise selbst entscheiden, wann und wo sie ihre täglichen Mahlzeiten zu sich nehmen – für ein Wohnheim in keiner Weise üblich.
Der Gründer des Vereins war sich darüber bewusst, dass die hausinternen Anordnungen mit ihren Freiheiten und indirekten Aufforderungen zur umfangreichen Eigenständigkeit nicht von allen positiv gesehen wurden: „Mein Nachfolger im Amt wird aber vielleicht einmal sagen: Ich begreife den Wulff nicht, das sind doch keine Hausordnungen, es sind doch vielmehr nur Vereinbarungen, wie sie zwischen Hausbesitzern und Mietern bei Abfassung eines Mietkontaktes getroffen werden.“
Bereits 1893 wurde das zweite Gebäude fertiggestellt, das von Männern bezogen werden konnte. Diese waren wie im Wohnheim für blinde Frauen vor allem Beschäftigte der Werkstatt. Anders war allerdings ihre Perspektive. Während man bei den Bewohnerinnen damit rechnete, dass sie ein Leben lang auf die Unterstützung im Bereich Wohnen angewiesen waren, sollten Männer nur eine bestimmte Übergangszeit im Heim verbleiben. Sie hatten grundsätzlich einen besseren Zugang zu einem normal geregelten Leben mit Familie und Arbeit.
1909 konnte ein weiteres Gebäude eingeweiht werden. Der Verein zur Beförderung der wirtschaftlichen Selbstständigkeit der Blinden sorgte sich nicht nur um die jungen Menschen mit Sehbehinderungen, die bis zum Beginn der Vereinsarbeit perspektivlos vor ihrer Zukunft standen, sondern auch um die älteren, blinden Personen. Deshalb entstand ein sogenanntes Feierabendhaus in Rehbrücke bei Potsdam.
Der Weg vom Bewohner zum Mieter
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stand das Blindenhilfswerk Berlin e.V. vor Trümmern. Nicht nur, dass die Häuser 1943 und 1944 durch Bomben getroffen wurden und das Frauenwohnheim nicht mehr bewohnbar war, auch die politischen Verhältnisse führten aufgrund von Enteignungen anfangs zum vorübergehenden und letztendlich zum totalen Verlust des Potsdamer Feierabendhauses im Jahr 1954.
Der Bedarf an Wohnraum für blinde Menschen war weiterhin groß. Nachdem man den Verein wieder auf sichere Beine stellte, sowohl rechtlich als auch finanziell, wurde mit dem Neubau des zerstörten Gebäudes in der Lepsiusstraße 117 begonnen, so dass das Haus 1957 wieder bezogen werden konnte. 1966 und 1975 folgten Erweiterungsbauten. Bis heute stehen damit vier Häuser mit insgesamt 60 Wohnungen für Menschen mit Sehbehinderungen zur Verfügung.
Zwar wurden die Zimmer in den 80er Jahren erst offiziell zu reinen Mietwohnungen umgewandelt, doch schon früher veränderten sich die Wohnheime peu à peu zu Wohnhäusern. Der Beginn liegt in den Nachkriegsjahren, nachdem die vor den Fliegerangriffen evakuierten Bewohnerinnen und Bewohner nach Berlin zurückgekehrt waren. Da nur noch das Haus in der Rothenburgstraße 15 bewohnbar war, musste die bis dato strenge Geschlechtertrennung aufgehoben werden. In den Folgejahren weichten auch weitere Regeln immer mehr auf: erst durften blinde Paare gemeinsam Zimmer bewohnen, später auch Paare, bei denen eine Person sehend war. Und auch Menschen mit Sehrestvermögen fanden nun in den Wohnhäusern eine Wohnung.
Selbstständig, selbstbestimmt und selbstbewusst
Vor über dreißig Jahren sind aus den damaligen Bewohner*innen damit Mieter*innen geworden. Obwohl das Blindenhilfswerk Berlin den Mieterinnen und Mietern bei behördlichen Anliegen und in anderen kleineren Situationen zur Seite steht, ist für das Wohnen in den Häusern eine große Selbstständigkeit notwendig. Für Menschen, die keine echten Berührungspunkte mit der Thematik Blindheit und Sehbehinderung haben, ist es oft aber nur schwer vorstellbar, dass man auch ohne oder geringem Sehrest selbstständig, selbstbestimmt und selbstbewusst leben kann. Und auch die alten Erinnerungen der Nachbarschaft an das Wohnheim und die bis 2018 betriebene Werkstatt spielen dabei eine große Rolle. „Ich wurde schon so oft gefragt, ob ich in dem Blindenheim wohne. Und wenn man hier wohnt, dann wird automatisch davon ausgegangen, dass man in einer Werkstatt arbeitet. Das nervt!“, erzählt eine Mieterin. Diese Erfahrung haben bereits viele der hier wohnenden Personen gemacht. Deshalb ist auch Inklusion ein wichtiges Anliegen des Vereins. Angebote und Veranstaltungen sind barrierefrei und schaffen Raum für Begegnungen. Der Bereich Wohnen wird zukünftig ebenfalls neu und inklusiv gedacht. Missverständnisse und Vorurteile zwischen Menschen mit und ohne Seheinschränkungen sollen so ausgeräumt werden, um den Weg für ein gutes und offenes Miteinander zu ebenen.
Ihr/e Ansprechpartner/in
Carsten Zehe
Tel.: 01522 5883073
info@blindenhilfswerk-berlin.de